26. April 2016: Block 4 des Atomkraftwerkes Tschernobyl explodierte vor 30 Jahren

 

In der Nacht vom 25. zum 26. April 1986 geriet der Reaktorblock 4 durch ein fehlgeschlagenes Experiment (Simulation eines völligen Stromausfalls) außer Kontrolle. Es kam zu einem unkontrollierten Leistungsanstieg, der um 1.23 Uhr in der Früh des 26. April zu einer Knallgas-Explosion führte, die das Dach zerfetzte und das Reaktorgebäude zum Einsturz brachte. Die große Hitze des Reaktorkerns führte zum Brand des umgebenden Graphitblocks, und der Reaktorkern begann zu schmelzen. Die entweichende strahlende Wolke verseuchte ein riesiges Gebiet im Länderdreieck Ukraine, Weißrussland und Russland. Sie zog sogar über halb Europa und verursachte noch in 1000 Kilometern Entfernung radioaktive Kontamination. Auch in Österreich.

 

Die Katastrophe in Tschernobyl – der Super-GAU – war die Folge einer Kombination aus menschlichem Versagen, mangelhafter Organisation und Fehlern im Reaktorkonzept.   

 

Chronologie

 

25. April 1986:

1:06 Vorbereitungen für den Testlauf in Block 4 – Leistung wird heruntergefahren

13:05 Unterbrechung der Leistungsabsenkung wegen erhöhten Strombedarfs in Kiew

14:00 Beginn Abschaltung des Havarieschutzes mit Notkühlsystem, um unter realistischen Bedingungen zu testen

23:10 Freigabe zur weiteren Leistungsabsenkung

 

26. April 1986:

0:00 Neue Schichtmannschaft übernimmt Reaktor

0:28 Leistung sackt weiter ab – Ursache bisher ungeklärt

0:32 bis 1:03 Steuerstäbe zur Leistungssteigerung ausgefahren. Auf Zuschaltung zweier Kühlmittelpumpen reagiert automatische Reaktorregelung mit weiterer Ausfuhr von Steuerstäben

1:23:04 Beginn des Testlaufs mit Schließung der Dampfzufuhr zu den Turbinen; durch zu wenig Kühlwasser im Reaktorkern steigt die Temperatur stark an

1:23:40 Manuelle Einschaltung des Havarieschutzes – alle Steuerstäbe fahren gleichzeitig ein; Graphitköpfe an deren Spitze beschleunigen kurzzeitig die Kettenreaktion

1.23:44 Leistung verhundertfacht sich in Sekundenbruchteilen – Druckröhren platzen, Brennelemente schmelzen, durch Reaktion mit Wasser entsteht Knallgas

1:23:58 Reaktor explodiert

 

Technisches

 

Es handelt sich bei den vier Reaktorblöcken des Atomkraftwerkes Tschernobyl um sogenannte Leichtwasser-Graphit-Reaktoren. Leichtwasser, d. i. normales Wasser (zu unterscheiden von Schwerwasser, dessen Moleküle aus Deuterium und Sauerstoff bestehen), wird durch die Brennstäbe zum Sieden gebracht, und der dabei entstehende Wasserdampf treibt die Turbinen an. Graphit dient als Moderator. Das heißt, er bremst die Neutronen ab, damit sie in der Lage sind, Atomkerne von Uran-235 zu spalten.

 

Solche Reaktoren sind im Gebiet der ehemaligen UdSSR verbreitet. Es handelt sich dem Prinzip nach um einen Siedewasserreaktor, dessen Dampfkessel (Reaktordruckgefäß) nicht die übliche kompakte Form aufweist, sondern aus Röhren besteht. Die Brennelemente eines solchen Reaktors stecken in den von Wasser durchströmten Röhren, die einen Graphitblock senkrecht durchziehen. Die Röhren sind untereinander verbunden und bilden in ihrer Gesamtheit gleichsam den Dampfkessel.

 

Geschichtliches und Geographisches

 

Das Atomkraftwerk Tschernobyl ist das erste, das in der Ukraine errichtet wurde. Der erste Block ging 1977 ans Netz, 1983 waren alle vier Blöcke fertig. Die Kleinstadt Tschernobyl liegt am Fluss Prypjat und hatte vor der Reaktorkatastrophe (mit Umland) ca. 14.000 Einwohner. Vier Kilometer vom Atomkraftwerk entfernt liegt ie Geisterstadt Prypjat, die ca. 50.000 Einwohner zählte. Die meisten Einwohner dieser Stadt, die 1970 gegründet worden war, waren Arbeiter im Atomkraftwerk Tschernobyl. Da Prypjet innerhalb der Sperrzone liegt, die 30 Kilometer um den havarierten Reaktorblock verordnet wurde (etwa so groß wie Vorarlberg), wurde die gesamte Stadt – und die 187 umliegenden Dörfer – evakuiert, und zwar leider erst 36 Stunden nach dem Reaktorunfall.  

 

Was ist ein GAU? Was ist ein Super-GAU?

 

Ein Atomkraftwerk muss so gebaut sein und so ausgerüstet sein, dass es den größten anzunehmenden Unfall (GAU) beherrschen kann, ohne die Umgebung signifikant zu gefährden. Unter einem GAU werden der Bruch der Kühlmittelleitung und das Versagen eines Sicherheitssystems angenommen. Als nicht wahrscheinlich genug gilt der Ausfall eines zweiten Sicherheitssystems. Daher wird dem Atomkraftwerksbetreiber auch nicht vorgeschrieben, einen solchen Unfall – der mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Katastrophe führen würde – zu beherrschen. Tritt dieser Fall dennoch ein, so spricht man von einem Super-GAU, der in der Regel zum Schmelzen des Reaktorkerns und zur Freisetzung großer Mengen radioaktiver Stoffe führt.

 

90.000 tote Liquidatoren

 

Nach der Katastrophe warfen sich Atomkraftwerks-Techniker und Feuerwehrleute als Erste der Strahlung entgegen. Manche Männer erbrachen sich, andere fühlten sich wie nach einem Sonnenstich. Über 30 von ihnen verbrannte die inhalierte Radioaktivität in den nächsten Wochen von innen. Danach kamen Ingenieure, Facharbeiter, Soldaten. Insgesamt 800.000 Sowjetmenschen waren im Einsatz. Zehntausende verloren ihr Leben, Hunderttausende ihre Gesundheit.

Sogenannte Liquidatoren begannen mit Aufräumarbeiten und mit der Dekontamination der am stärksten betroffenen Gebiete. Sie campierten in Zeltlagern außerhalb der 30-Kilometer-Zone, fuhren auf Ural-Lkws in die Radioaktivität. Sie trugen simple Schutzbekleidung aus imprägniertem Stoff und Gummistiefel und Atemmasken aus mit Glasfaser überzogenem Mull, „Blättchen“ genannt. Die Männer arbeiteten in Schichten, je nach Radioaktivität vor Ort eine halbe Stunde oder nur fünf Minuten. Hinterher wurde mit einem Stiftdosimeter die Strahlung an ihrer Kleidung kontrolliert. Hatte eine Gruppe das Tageshöchstsoll von 0,6 Röntgen erreicht, wurden sie zum Duschen abkommandiert.

 

Bauarbeiter und Soldaten, Bagger- und Lkw-Fahrer mauerten die Radioaktivität zu, wuschen, schabten und fuhren sie weg, beerdigten sie. Bergleute gruben einen 150-Meter-Tunnel unter den Reaktor, um das Erdreich darunter mit einem Betonsockel abzudichten.

 

240.000 Liquidatoren kamen aus Russland. 90.000 von ihnen sind gestorben. Offiziell starben nur 10.000 von ihnen an Radioaktivität. Von den 90.000 Invaliden soll laut offiziellen Angaben nur bei 40.000 die Radioaktivität ihr Siechtum verursacht haben.

 

Bis November 1986 errichtete man einen aus Stahlbeton bestehenden provisorischen Schutzmantel um den zerstörten Reaktorbau, der meist als "Sarkophag" bezeichnet wird.

 

Die Folgen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl sind verheerend

 

Innerhalb der ersten zehn Tage nach der Explosion wurde eine Aktivität von mehreren Trillionen Becquerel freigesetzt. Die so in die Erdatmosphäre gelangten radioaktiven Stoffe, darunter die Isotope Caesium-137 mit einer Halbwertszeit (HWZ) von rund 30 Jahren und Jod-131 (HWZ 8 Tage), kontaminierten infolge radioaktiven Niederschlags hauptsächlich die Region nordöstlich von Tschernobyl sowie viele Länder in Europa. 

 

Unbestritten sind die drei Toten, die auf Grund der Explosion zu Tode kamen. Ebenso unbestritten sind 28 weiteren Männer, die im gleichen Jahr an akuter Strahlenkrankheit starben. Wie viele wirklich als Folge der Reaktorkatastrophe früher oder später starben bzw. noch sterben werden, ist eine Streitfrage. Die Forschungsergebnisse zu den Opferzahlen hängen davon ab,

- wer die Forschung betreibt (unabhängige Wissenschafter oder solche, die die Katastrophenfolgen vertuschen wollen bzw. müssen),

- wie Forschung betrieben wird

- und welche Forschungsergebnisse man erst nimmt.

 

Viele Arbeiter, die unmittelbar nach der Explosion zum Aufräumen abkommandiert worden waren, Liquidatoren genannt, erlitten die Strahlenkrankheit. Zum Teil sind sie daran gestorben. Über die Zahl jener, die an Spätfolgen sterben werden (Krebs, Leukämie), gehen die Schätzungen weit auseinander.

 

Die Internationale Atomenergieorganisation (IAEO) spricht von 58 Toten als Folge der Katastrophe, die Ukrainische Kommission für Strahleschutz von 34.499 Toten. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht von 50.000 Toten aus. Von bis zu 100.000 Toten, bedingt durch die Aufräumarbeiten, sprechen das Komitee der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs und die Gesellschaft für Strahlenschutz.

 

Das „Tschernobyl-Forum“ wollte 2005 unter der Leitung der IAEO Klarheit über die Zahl der Toten schaffen. Dieses Forum ist ein Zusammenschluss von IAEO, von Organen der UNO, der Weltbank, der WHO, der Welternährungsorganisation FAO und der drei hauptsächlich betroffenen Staaten Ukraine, Weißrussland und Russland. Man prognostiziert, dass die Gesamtzahl bei den auf den Unfall zurückzuführenden Todesopfern bei etwa 4.000 liegen werde. Offen gesagt: Das ist eine eher niedrigen Schätzung.

 

Am schlimmsten hat es die Kinder getroffen. Bis 2005 verzeichneten die drei am stärksten vom Super-GAU betroffenen Staaten ca. 7.000 Fälle von Schilddrüsenkrebs. Hauptursache: Die Kinder hatten die kontaminierte Milch getrunken. Bei den Erwachsenen konnte der Effekt bisher nicht nachgewiesen werden.

 

 

 

Quellen:

Wikipedia

Radiosendung „Dimensionen – die Welt der Wissenschaft“ des ORF-Senders Ö1 vom 21. April 2015 um 19.05 Uhr

Fernsehsendung „Universum History – Das Tschernobyl-Vermächtnis“ auf ORF 2 vom 22. April 2016 um 22.45 Uhr

Radiosendung „Mittagsjournal“ des ORF-Senders Ö1vom 26. April 2016

Tageszeitung „Salzburger Nachrichten“ vom 23. April 2016

Tageszeitung „Oberösterreichische Nachrichten“ vom 23. April 2016     

 

Maßeinheit von der absorbierten Dosis („Äquivalenzdosis“):

1 Sievert (Sv) = 1.000 Milli-Sievert (mSv.)

Frühere Maßeinheit: 1 rem (roentgen equivalent man) = 1.000 mrem

1 Sievert = 100 rem

Erklärung: 1 Sievert = 1 Joule/kg Körpermasse (bei Alpha-Strahler im Körper mit 20 multiplizieren, bei schnellen Neutronen mit 10 multiplizieren)

 

Maßeinheit der Aktivität:

Becquerel, abgekürzt Bq, ist die SI-Einheit der Aktivität (Formelzeichen A) einer Menge einer radioaktiven Substanz. Die Aktivität gibt die mittlere Anzahl der Atomkerne an, die pro Sekunde radioaktiv zerfallen:
1 Bq = 1s−1 (d. h. ein Becquerel entspricht einem radioaktiven Zerfall pro Sekunde)
Im täglichen Gebrauch der Einheit ist fast immer die Verwendung eines Vorsatzes für die Größenordnung notwendig (vor allem Kilo, Mega, Giga und Tera)